Norbert Niemann

Johannes X. Schachtner

Werke für Ensemble

NEOS-Music, 2016

In der Literatur gibt es den Begriff des poeta doctus. Er bezeichnet Schriftsteller, deren dichterische Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart auf präzisen Studien der Literaturgeschichte und ihrer ästhetischen Formensprache fußt – ohne dass für Leser dieselben Kenntnisse zwingend erforderlich wären. Überträgt man die Definition auf die Musik, kann man den Komponisten Johannes X. Schachtner einen musicus doctus nennen. Denn seine Kunst des Tonsatzes schöpft aus einer eingehenden Befragung der musikalischen Tradition.
Als wir uns 2009 kennenlernten, beeindruckte mich der damals 24-Jährige mit seinem stupenden Wissen und seinem außerordentlichen Reflexionsniveau. Aus einer Musikerfamilie über mehrere Generationen stammend, hatte der junge Dirigent und Komponist die Musikgeschichte so sehr verinnerlicht, dass jedes Gespräch mit ihm zu einer Erweiterung meines musikalischen Horizonts beitrug. Zu der Zeit hörte ich erste Stücke Schachtners, unter anderem eine frühe Fassung seiner „Kammersymphonie“, die hier in verdichteter Form als „Symphonischer Essay“ vorliegt. Unschwer erkannte ich den Beethoven-Bezug des Werks, dem zwei Takte kurz vor dem Ende der 8. Symphonie als Basis dienen.
Ich begann auch bereits etwas vom spezifischen Charakter der ästhetischen Haltung Johannes X. Schachtners zu ahnen. Seine Kompositionen setzen die Paradigmen der Neuen Musik, in deren Selbstverständnis der Bruch mit der Tradition eine essentielle Komponente darstellt, nicht einfach fort, sondern verhalten sich zu ihnen als Teil einer Kontinuität und jüngstem Abschnitt eines musikhistorischen Erbes. Der Bruch wird selbst Teil der Geschichte. Serialität und Spektralisierung des Klangs als zentrale Topoi der Neuen Musik gehören weiterhin zum tonsetzerischen Rüstzeug, werden allerdings derselben Befragung und Hinterfragung unterworfen wie ältere Ausprägungen musikalischer Formensprache. Dies geschieht in einer für Schachtners Technik signifikanten Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart, die weniger als Dialektik, mehr als eine Art Assoziationskontrapunkt miteinander in Austausch geraten.
Gerade diese Haltung des musicus doctus legt die Überarbeitung älterer Stücke im Sinn formaler Vertiefung nahe. Gegenüber der früheren Version wird in „Symphonischer Essay“ das irritierende Moment jener zwei Beethovenschen Takte durch Auffächerung der in ihnen komprimierten rhythmischen Figuren noch weiter getrieben und in ein musikalisches Prinzip überführt. Auf der Klangebene steht zugleich F-Dur als tonales Zentrum im Mittelpunkt der kompositorischen Auseinandersetzung, ohne jedoch zur Funktionsharmonik zurückzukehren. Die Tonart wird vielmehr als Material behandelt. F-Dur – genauer gesagt: dessen Charakter bei Beethoven – ist Reflexionsgegenstand dieses Orchesterstücks, weshalb auch klangliche Reminiszenzen aus der „Pastorale“ darin aufscheinen. In dieser assoziativen Verknüpfung der rhythmischen und klanglichen Fragestellungen zeigt sich deutlich der essayistische Ansatz Schachtners, seine musikalischen Gedanken in experimenteller Anordnung und mit offenem Ausgang gleichsam vor den Ohren der Hörer zu entwickeln.
Johannes X. Schachtner befragt nicht allein den Ton, den Klang, sondern die Geschichte, das Werk, das Zitat, also auch den Bedeutungsraum der Klänge und Motive in ihrem historischen Kontext. So kann auch F-Dur wieder Thema für ihn werden. Es gestattet ihm sogar das Tabu von Romantizismen zu übertreten. „Air – an Samuels Aerophon“ greift die Idee der langen Bläserakkorde aus dem Beginn von Richard Strauss‘ „Alpensymphonie“ auf. Vor der Etablierung der Zirkularatmung hatte Strauss den Einsatz einer Apparatur vorgeschrieben, die es mittels eines kleinen Blasebalgs und eines in den Mund eingeführten Schlauchs erlaubte die Töne länger zu halten, als das Atemvolumen reichte: Samuels Aerophon. Bei Schachtner wird in der klanglich-dynamischen Variation einer Holzbläserbesetzung plus Hörnern und Wagner-Tuben Strauss‘ programmmusikalischer Gedanke, das „Wesen der Nacht“ durch einen wie endlos gehaltenen Klang auszudrücken, aus seinem Symbolismus erlöst und als offene Form neubestimmt.
Die „Inventionen“ nehmen nicht zufällig die alte Gattungsbezeichnung auf, die vor allem mit dem Namen Johann Sebastian Bach verbunden ist. Die handwerklich inspirierte Tradition Bachs aufgreifend, versucht auch Schachtner sich die musikhistorische Formensprache gewissermaßen einzuverleiben und sie in eine eigene, gegenwärtige zu transformieren. Als Erfindungen im Wortsinn dehnt er in den Inventionen den essayistischen Ansatz auf außermusikalische Aspekte aus. In Invention III für Schlagzeug: „Hopscotch“ (das englische Wort für das Hüpfspiel Himmel-und-Hölle) erscheint zwar das Motiv des Hopsens etwa in der Pedalpauke mit ihren variierenden Tonhöhen, aber das spielerische Moment schlägt gegen Ende des Stücks um ins Gegenteil: So wird durch Beschleunigung und die Trommelwirbel der Snaredrum auch der moraltheologische Nebensinn im Namen des Spiels thematisiert. Invention IV: „Canon“, ein Klavierquintett mit Percussion-Ensemble, verknüpft die Form des Kanons mit der Idee der Flugbahn einer Kanonenkugel bis zu ihrem Einschlag, die durch Glissandi und permanente Temposteigerung klanglich zum Ausdruck kommt; das Beschleunigungsmotiv verweist aber auch auf die Komposition „Music of the Spheres“ der in den zwanziger Jahren aus Deutschland in die USA emigrierten Johanna Magdalena Beyer, der das Stück gewidmet ist. Es ist ein frühes Beispiel elektroakustischer Musik aus dem Kreis der amerikanischen Avantgarde um den jungen John Cage. „Invention V: Battery“ mit seinen Doppelinstrumentalisten ist als eine Art Instrumentierung von Schlagzeug-Gesten konzipiert: Jedem der vier Bläser ist ein Perkussionsinstrument zugeteilt, das er gleichzeitig bedient. Auch hier spielt Schachtner mit den Bedeutungsebenen des titelgebenden englischen Worts „battery“: Serie und Tätlichkeit akkumulieren durch aggressive Rhythmisierung zur musikalischen Attacke.
In den Vertonungen schließlich widmet sich Johannes X. Schachtner den Relationen und Korrespondenzen zwischen Sprache und Musik. Die „Quatre tombeaux de vent“ von Frédéric Wandelère sind schwebende Wortgebilde. Sie beschwören die Geister von Verstorbenen. Schachtners Werk für Sopran und Kammerorchester vermeidet jede Wortwörtlichkeit und findet im Verzicht auf Basslagen, in den knappen, wie impressionistisch hingetupften Phrasen dennoch Entsprechungen zur immateriellen Präsenz der geliebten Toten. In „Aufstieg“ hingegen, einer Ballade für Bariton und kleines Ensemble nach einem Libretto von Johanna Schwede, steht theatrale Expressivität im Zentrum der kompositorischen Aufmerksamkeit. Beides sind Studien zur Verklanglichung der Atmosphäre von Texten. Sie erweitern noch einmal das Repertoire eines essayistischen Verfahrens, das auf Kristallisationen und Manifestationen von Klangwelten abzielt, die sich zur Zukunft der Musik hin öffnen. Genau das gelingt Johannes X. Schachtner mit seinem Werk.

Johano Strasser (Hg.)

Das freie Wort

Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter

Allitera Verlag

Mit Beiträgen von
Daniela Dahn
Gert Heidenreich
Dagmar Leupold
Sergej Lochthofen
Julian Nida-Rümelin
Norbert Niemann
Georg Picot
Petra Pinzler
Bernhard Pörksen
Fridolin Schley
Gesine Schwan
Thomas von Steinaecker
Johano Strasser
Wolfgang Thierse

Allitera, Verlagsseite

Norbert Niemann

Mediale Ikonen. Über den Maler Anton Petz

Überlegungen zum kunsttheoretischen Stand der Dinge

Essay, in: Anton Petz: "Mächte & Massen", deutsch/englisch, Ausstellungskatalog, München 2013, S.136 - 143

"Als ich Anton Petz in seinem Atelier besuchte, kamen wir neben vielem anderen auf den Schluss des Films "Im Lauf der Zeit" von Wim Wenders aus dem Jahr 1976 zu sprechen. Darin sitzt ein Junge an einem Bahngleis und schreibt in einem Notizbuch auf, was er sieht. Thema des Films ist, was eine Figur darin als "Kolonialisierung" des Unbewussten, in diesem Fall durch die Bilder Hollywoods bezeichnet. Zum Gegenprogramm wird ein Kino als "Kunst des Sehens" erhoben, das wie das schreibende Kind am Bahnhof mit der Unschuld einer naiven, aber authentischen Genauigkeit und Unerschrockenheit die Wirklichkeit erfasst, die es umgibt. Die Szene und ihr ästhetisches Postulat, in unserer Jugend prägend für die je eigene künstlerische Sozialisation, sind aufschlussreich für das, was sich seither verändert hat. (...) Inzwischen ist die Wirklichkeit im digitalen Universum der Netzwerke derart engmaschig mit den konkreten Geschehnissen verwoben, dass wir als deren Teilhaber ständig gleichzeitig auf zwei Realitätsebenen existieren und agieren. Das Konkrete und das Mediale lassen sich eben gerade nicht mehr als zwei getrennte Realitäten wahrnehmen."

Norbert Niemann

Die Aura des Verschwindens der Aura

Zu den Gedichten von Alexander Skidan

Einführung, in: Michael Krüger (Hsg.): "Akzente. Zeitschrift für Literatur. Heft 4 / August 2013" Carl Hanser Verlag, München 2013, S. 366f.

"Der Petersburger Autor isoliert und sammelt Wahrnehmungspartikel. Er beobachtet einen gesellschaftlichen Prozess zunehmender sozialer und ideologischer Verwerfungen, bei dem sich alte und neue politische und religiöse Systeme vermischen, ineinander schieben, verkeilen. Nicht zuletzt manifestieren sich diese Verwerfungen in der Sprache. Was Alexander Skidan interessiert, ist die "linguistische spur des realen". Die Versprechen der westlichen Konsumindustrie, die ökonomische Allmacht und Rücksichtslosigkeit der Oligarchen, der Schulterschluss des Staats mit der wiedererstarkten russisch-orthodoxen Kirche und das ungebrochene Fortleben sowjetkommunistischer Strukturen spiegeln sich als wüste Mischung widersprüchlicher Botschaften."

Norbert Niemann

Aschenbecher, Initiation

Aus dem Wörterbuch des LCB

Beiträge, in: Literarisches Colloquium Berlin (Hsg.): "S-Bahn nach Arkadien. Das Literarische Colloquium Berlin in Wort und Bild" Matthes & Seitz, Berlin 2013, S.42 + 101

"Vor der Wiedervereinigung waren Schriftsteller und Raucher nahezu Synonyme. In beiden Deutschland. Nach ihr zerfielen sie allmählich in zwei Entitäten. Doch als ich 1997 zum ersten Mal ins LCB kam, zeugte dort noch alles von der einstmals schillernden, oder vielmehr nebligen Einheit. Nie davor, erst recht nie wieder danach, habe ich ein Haus gesehen, das derart flächendeckend mit Aschenbechern ausgestattet war, so immense Raucherfreundlichkeit verriet. Wo immer man stand, saß, lag, stets war einer in Reichweite. Selbst neben dem Wasch-, Piss-, Klobecken."

Norbert Niemann

Willys Haut

Über Willy Brandt in meinem Elternhaus

Essay, in: Joachim Helfer, Klaus Wettig (Hsg.): "Durchgefressen und durchgehauen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller gratulieren der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum 150.Gründungsjahr" Steidl Verlag, Göttingen 2013, S.179 - 182

"Ich meine mich des Augenblicks zu entsinnen, als zum ersten Mal eine Art Bewusstsein für Politik in mir erwachte, für ihre Bedeutsamkeit. Die Familie saß beim Abendessen im Wohnzimmer meiner Großeltern zusammen. Es muss ein Feiertag gewesen sein, weil solche gemeinsamen Essen nur an Feiertagen stattfanden. Der Fernseher lief, die Tagesschau kam, Willy Brandt erschien auf dem Bildschirm, sprach etwas. Meine Großmutter sagte: "In dem seiner Haut möchte ich nicht stecken." Ich kann nicht älter als sechs oder sieben gewesen sein, denn ich verstand die Redewendung noch nicht. Ich weiß auch nicht, ob Willy Brandt damals bereits Kanzler oder noch Außenminister gewesen ist, so wie ich keinerlei Erinnerung besitze, um was es in der Nachrichtenmeldung ging. Ich erschrak nur über die Äußerung meiner Großmutter, starrte auf die Schwarzweißbilder, musterte dieses Gesicht, genauer, diese Haut, in der sie nicht stecken wollte."

Norbert Niemann

Ein langes Gespräch

Zu Ingo Schulze

Essay, in: Heinz Ludwig Arnold (Hsg.): "Ingo Schulze. Text + Kritik 193" edition text + kritik, München 2012, S.60 - 67

"Epische Prosa besitzt keine unantastbare auktoriale Instanz. Sie veranlasst Autor wie Leser, den Erzählerstimmen zuzuhören, mit ihren Standpunkten auch den eigenen Standpunkt zu überprüfen. Dazu diente auch das lange Gespräch, das wir über unsere Romane führten, über ihr Verhältnis zur Literaturgeschichte, zur gesellschaftlichen Gegenwart, zum Stil - ein Gespräch, das im Grunde schon 1997 begann, über gegenseitige Lektüre fortgesetzt wurde und, so bleibt zu wünschen, weitergehen wird."

Norbert Niemann

Burghausen Tag und Nacht (Eine Geisterfahrt)

Schreiben mit der Klasse 8a der Hauptschule an der Ichostraße in München

Kurzroman, in: Franziska Sperr (Hsg.): "Klasse Geschichten. Schüler und Autoren entwickeln gemeinsam eine Geschichte." Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2012, S.107 - 134

"Am nächsten Morgen beim Frühstück hielt Frau Westphal eine Ansprache. Es waren Sachen gestohlen worden in der Stadt. Die Polizei hatte in der Jugendherberge angerufen und wollte wissen, ob dort etwas Verdächtiges aufgefallen war. Man hatte bereits die Bilder der Videoüberwachung überprüft, konnte darauf aber das Gesicht des Diebs nicht sehen. Auch an der Kleidung gab es keine besonderen Kennzeichen. Der Gesuchte, so hatte es geheißen, trug ein gewöhnliches Sweatshirt ohne Aufdruck und mit einer Kapuze, die er sich über den Kopf gezogen hatte. "Ist das einer von euch gewesen?", fragte Herr Kollmannsberger in strengem Ton. Aber es meldete sich natürlich keiner."

Norbert Niemann

Lass dich nicht täuschen

Talking Heads

Essay, in: Thomas Kraft, Alexander Müller, Arne Rautenberg (Hsg.): "Punk Stories" LangenMüller, München 2011, S.222 - 227

"Der Bandname Talking Heads bezog sich auf die "sprechenden Köpfe" der Nachrichtensprecher, Moderatoren, Reklamegesichter im Fernsehen. Die Songzeilen klangen, als kämen sie aus den Mündern eben solcher "sprechender Köpfe", aber irgendwie schwang gleichzeitig eine zweite, verborgenen Sinnebene mit. Snap into position, Bounce till you ache, Stop making sense - wie war das nun gemeint? Wer sollte aufhören, Sinn zu produzieren? Was redeten diese Stimmen in uns hinein, durch uns hindurch?"

Norbert Niemann

LIMITS

Für den Künstler Bodo Korsig

Text, in: Bodo Korsig - Limits, Katalog zur Ausstellung in der Stadtgalerie Saarbrücken, Kerber Verlag, Leipzig 2011

"Auf einmal hatte er das Gefühl, als existiere nichts mehr. Die Welt vor der Windschutzscheibe erschien ihm fadenscheinig, schütter, durchsichtig auf ihren leeren Kern. Was immer ihm durch den Kopf spukte, hatte keinerlei Sinn. Er schaute auf die rückstrahlenden Pfosten, die ihm im Vorbeisausen den Takt schlugen, dann wieder auf die Armaturen, seine Hände auf dem Lenkrad, die Fingerknöchel, die Adern, die Härchen. Als wirkte wie abgestorben, jede Bewegung eine Täuschung."

Norbert Niemann

Adenauer im Sex-Shop II

Zum Thema Pornografie und neueste Öffentlichkeit

in: Jörg Metelmann (Hsg.): "Porno-Pop II. Im Erregungsdispositiv" Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, S.115 - 120

"Beim Wiederlesen von "Adenauer im Sex-Shop" war ich erstaunt, wie wenig spektakulär mir der Text inzwischen vorkam. Seinerzeit hatte ich das Gefühl, mich doch ziemlich weit aus dem Fenster zu hängen. Aber die mediale Öffentlichkeit hat seither offenbar eine Entwicklung genommen, die den 'bösen' Vergleich mit der Prostitution fast schon normal und harmlos klingen lässt."

Norbert Niemann

Verschränkung der Welten, Sprenkelung des Daseins

Versuch über das Epische in Alfred Döblins Spätwerk

Essay, in: Neue Rundschau 1/2009: Alfred Döblin (hg.v. Jörg Fessmann), Frankfurt am Main 2009, S.9 - 22

"Die Frage nach Döblins Aktualität ist daher ambivalent zu beantworten: In seiner poetologischen Vielfalt nach wie vor unerschlossen, mit Ausnahme des Romans Berlin Alexanderplatz einem breiteren Publikum so gut wie unbekannt, wirkt sein Werk weiter auf heute lebende Autoren, die sich die zweifelnde Suche nach Sinn und Form des Erzählens bewahrt haben. Jedes seiner Bücher ist eine Flaschenpost; jede Flasche enthält eine andere Botschaft: Ansätze und Möglichkeiten, wie der "Verschränkung der Welten", der "Sprenkelung des Daseins" in einer von Technologie und Ökonomie überformten Wirklichkeit schreibend zu begegnen wäre."

Norbert Niemann / Arno Geiger

Das "Niemann-Exemplar" von Arno Geigers "Es geht uns gut", das "Geiger-Exemplar" von "Willkommen neue Träume"

Eine Dokumentation des Vorarlberger Franz-Michael-Felder Archivs, Österreich

Dokumentation, in: Martin Wedl, Volker Kaukoreit (Hsg.): "15 x Koop-Litera. Begleitbuch zur Veranstaltung "Literatur und ihre Archive", Linz 2009, S.26 - 37

"Das Franz-Michael-Felder-Archiv konnte vor einigen Jahren eine Fassung von Arno Geigers Roman "Es geht uns gut" als Computerausdruck erwerben, der vom deutschen Autor Norbert Niemann Zeile für Zeile intensiv korrigiert worden war (das Niemann-Exemplar). Im Gegenzug hat Norbert Niemann im Vorfeld seines 2008 erschienenen Romans "Willkommen neue Träume" Arno Geiger gebeten, die Druckfahnen Korrektur zu lesen."

Norbert Niemann

Innereien

Über das Weiße Bräuhaus im Münchner Tal

Essay, in: Björn Kuhligk, Tom Schulz (Hsg.): "Das Münchner Kneipenbuch. Münchner Autoren und ihre Kneipen" Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2009, S. 44 - 49

"Im Münchner Tal, fünf Minuten vom Marienplatz, liegt das altehrwürdige Weiße Bräuhaus. Es ist das Stammhaus einer berühmten Weißbier-Marke und ein beliebter Treffpunkt für prominente Münchner Künstler. Sie verlieren sich in den verzweigten Wirtsräumen unter den Gästen. Aber wer von seinem Sitzplatz aus den Eingang im Visier hat, wird sich alle paar Minuten fragen, ob er dieses oder jenes Gesicht nicht schon einmal gesehen hat. Nicht in erster Linie deshalb jedoch ist das Weiße Bräuhaus etwas Besonderes. Hier gibt es eine Kost, die man selbst auf dem Land kaum mehr findet. Die Rede ist von der Innereien-Küche, die neben Breze, Weißwurst, süßem Senf ebenfalls eine urbayerische Spezialität ist."

Norbert Niemann

Lokale Meldungen

Über die Lektüre von Lokalzeitungen

Essay, in: Thomas Keul (Hsg.): "Unwürdige Lektüren" SchirmerGraf Verlag, München 2008, S.144 - 152

"Überhaupt gewinne ich zunehmend die Überzeugung, dass desto mehr Nichtwissen produziert wird, je mehr der Informationsfluss wuchert. Zugunsten eines Kameraschwenks übers grobe Ganze werden die Nuancen und Kleinigkeiten ausgeblendet wie diejenigen des konkreten sozialen Lebens, das unmittelbar um uns herum stattfindet. Sie lassen sich nicht vermitteln mit den Techniken der Informationsgesellschaft. Man läuft mit Radarohren und Teleskopaugen durch eine fremde Gegend und begreift die bizarren Bräuche der Eingeborenen nicht mehr. Ich vermute, genau deswegen habe ich irgendwann angefangen, jeden Morgen ausgiebig die hiesige Lokalzeitung zu lesen."

herausgegeben von Michael Lentz, Wolfgang Matz und Norbert Niemann

Akzente 4 / 2008

Roman

Akzente - Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger, Hanser Verlag, 01.06.2008

Darin: Ingo Schulze / Norbert Niemann: Gespräch über das Romaneschreiben

Außerdem mit Texten und Beiträgen von Miguel de Cervantes Saavedra, Martin Mosebach, Thomas Glavinic, Hans-Ulrich Treichel, Herman Melville, Kathrin Schmidt, Thomas Hettche, Wilhelm Genazino, Milan Kundera, Gustav Flaubert

Norbert Niemann

Plastic People

Frank Zappa und The Mothers Of Invention

Essay, in: Thomas Kraft (Hsg.): "Beat Stories" Blumenbar Verlag, München 2008, S.232 - 235

"In Berlin-Marzahn, einer Großbausiedlung im früheren Ostteil der Stadt, gibt es seit dem Sommer 2007 eine Franz-Zappa-Straße. Das freut mich. Zwar fällt mir dazu sofort die für Zappas Mothers of Invention typisch ironische Zeile Centerville, a really nice place to raise your kids up aus dem Rock-Movie 200 Motels ein, die trefflich das Klima in einer dieser aus dem Boden gestampften, toten Vorstädte zusammenfasst, wie sie seit den sechziger Jahren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu wuchern begannen. Aber anders als bei der Franz-Kafka-Straße in der Münchner Trabantenstadt Neuperlach klingt es nicht wie ein den Sozialbauhorror potenzierender Kommentar, sondern eher wie ein Appell, der tödlichen Dosis Betongrau mit einer überbordenden anarchischen Gestaltungsoffensive zu begegnen. Und wirklich proben in einem siebenstöckigen Plattenbau dieser ehemaligen Straße 13 von Berlin heute 160 Bands."

Norbert Niemann

Nächtliche Touren im Labyrinth der Altstadt

Ein Wiedersehen mit Regensburg nach zwanzig Jahren

Prosa, in: Konrad Maria Färber (Hsg.): "Regensburg - Das Gedächtnis Europas. Regensburger Almanach 2008, MZ Buchverlag, Regensburg 2008, S.93 - 96

"Immer begleitete ihn ihr Hallen durch die Gassen, immer war im voraus zu hören, wenn jemand gleich um die nächste Ecke biegen würde. An ihrem Ton ließ sich erkennen, ob er oder sie bummelte, schlenderte oder in Eile war. Helles Klacken verriet die Absätze von Frauenschuhen, die in desto höherem Tempo aufs Pflaster trommelten, je weiter die Nacht fortgeschritten war. Noch später ließen sich vermehrt auch holprige Rhythmen vernehmen, untermalt von den schwergängigen Atemstößen Betrunkener. Aber die meiste Zeit war er allein unterwegs auf seinen nächtlichen Touren im Labyrinth der Altstadt. Und immer blieb das Tackern der eigenen, von dem alten, feuchten, hier und da abblätternden Mauerwerk zurückgeworfenen Schritte bei ihm, gab mit der gleichfalls variierenden Geschwindigkeit und Lautstärke Auskunft über seine Gemütslage. Immer hörte er sich selbst beim Gehen zu, bildete sich dann ab und zu ein, er schlüge nicht nur sich, sondern der schlafenden Stadt den Takt."

Norbert Niemann

Uwe Johnson heute

Eine Hommage

Beitrag, in: Uwe Neumann (Hsg.): "Johnson-Jahre. Zeugnisse aus sechs Jahrzehnten." Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, S.1033 - 1037

"So liest sich Gesine Cresspahls Versuch in den Jahrestagen, ihrer Tochter Marie gegen die Auflösung der Sozialstrukturen einerseits, das pausenlose Verschwinden der Gegenwart in die Archive der Zeichen andererseits, die historischen Determinanten ihrer Existenz nahezubringen, beinahe wie der Entwurf für eine Literatur der Zukunft. Denn auch diese wird es sich, wie Gesine, zur Aufgabe machen müssen, jene Archäologie unseres gegenwärtigen Lebens zu betreiben, ohne die wir passiv, sprach- und spurlos von den Strudeln der Zeitgeschichte verschluckt werden."

Herausgegeben von Michael Lentz, Wolfgang Matz und Norbert Niemann

Akzente 6 / 2006

Heimat

Akzente - Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger, Hanser Verlag, 01.12.2006

Mit Beiträgen von:

Armin Senser / Leander Scholz / Noemi Kiss / Eberhard Rathgeb / Clemens Meyer / Ulrich Peltzer / Uwe Dick / Valeri Scherstjanoi / Norbert Scheuer / Arno Geiger

Norbert Niemann

Ideen zur Erregung von Körpern

Für den Künstler Bodo Korsig

Kurzprosa, in: Bodo Korsig - Where can I buy a new brain? Katalog 2006/2007, Goliath Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 2006

"Geist - ein fatales, zwischen Metaphern zerriebenes Wort. Geschleift und missbraucht, alles bedeutend und nichts. Eine schillernde Leere. Geist - eine Sehnsucht. Nach dem einen, dem übergeordneten Begriff. Sinnbild und Klammer, äußerste Verengung als äußerste Weite. Ein Kosmos."

Norbert Niemann

Adenauer im Sex-Shop

Zum Thema Pornografie und neueste Öffentlichkeit

Essay, in: Jörg Metelmann (Hsg.): "Porno-Pop. Sex in der Oberflächenwelt" Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, S.27 - 32

"Gibt es eine 'Pornoisierung' der Öffentlichkeit? Vor Jahren habe ich geschrieben, wir lebten in einer Art reziproken Adenauer-Gesellschaft, in der man nur den prüden Muff von damals durch sterilen Sex ersetzt hat. Inzwischen zeichnet sich dieser Trend immer deutlicher ab: Die Wunder- (von Bern, Lengede etc.) und Sissi-Filme (über Willy Brandt z.B.) der vergangenen Zeit belegen das. Es lässt sich einerseits eine krasse Entpolitisierung (und Ästhetisierung) des Politischen, andererseits aber auch eine krasse Enterotisierung des Sexuellen beobachten. Und beides läuft offenbar über die Leitmassenmedien."

Herausgegeben von Michael Lentz und Norbert Niemann

Akzente 3 / 2005

Schönheit

Akzente - Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger, Hanser Verlag, 01.06.2005

Mit Beiträgen von:

Franz Mon / Lutz Seiler / Wilhelm Genazino / Uwe Dick / Ilma Rakusa / Sigrid Behrens / Kathrin Röggla / Reinhard Jirgl / Daniel Kehlmann / Ludwig Fischer / Christoph Keller u. Heinrich Kuhn / Felix Philipp Ingold

Aus dem Vorwort:

Was schön ist, das sieht man ein. Es bedarf keines Gesprächs.
O doch, gerade das bedarf des Gesprächs!
Worüber?
Daß etwas schön sei. Und daß es bemerkt worden ist. Von jedem anders.
Doch was haben wir davon?
Es hält uns über Wasser. Es hilft uns sterben.
Wenn man aber einfach Stillschweigen darüber bewahren würde?
Da ist eine Entdeckerfreude, die dich mitreißt, Mundhalten wäre Gewalt.
Und was ist mit dem stillen Genießer?
Der ist selber schön. Man sieht ihm das Schöne an, das er entdeckt hat.
Plötzlich steht Schönheit im Raum – als Begriff.
Ein Begriff, der sofort zergliedert wird.
Den niemand mehr einsieht.
Darüber sich der Mund fusselig geredet wird.
Und schon ist es zu spät.
Schönheit also ausgerechnet im Schiller-Jahr.

Norbert Niemann

Hinweg

Eine Vergewisserung

Prosatext, in: Antje Rávic Strubel, Michael Lentz, Thomas Hoeps, Martin Gülich (Hsg.): „Zeitzonen. Literatur in Deutschland 2004“ edition silene, Wien 2004, S. 170 - 175

"Was eigentlich hatte er geglaubt, mit der Kamera eingefangen zu haben? Seine unverwechselbare Perspektive, davon war stets die Rede gewesen, der Lieblsche Standpunkt, der den Dingen ihre Wahrheit abringt, dieser Ruf eilte ihm nach bis heute. Was für eine Wahrheit? Je länger er in den Mappen blätterte, desto weniger wußte er eine Antwort. Auf den Abzügen fand er überall nur eine Dublette des Gewöhnlichen, er dachte, schal die Katastrophe, nachdem sie eingetreten ist. Welche Katastrophe?"

Norbert Niemann

Heiner Link

Artikel, in: Thomas Kraft (Hsg.): "Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" nymphenburger, münchen 2003

"Link, Heiner, wurde am 5.2.1960 als Sohn eines Kraftfahrers und einer Hausfrau in München-Pasing geboren. Nach einem Volkswirtschaftsstudium baute er mit seiner Frau Claudia Link ein Übersetzerbüro auf. Das Ehepaar lebte mit seinen Kindern Franziska und Moritz im Münchener Vorort Eichenau. Heiner Link starb am 30.5.2002 bei einem Motorradunfall."

Norbert Niemann

Leistungskurs Literatur

Ein Plädoyer für Schullesungen

Essay, in: Thomas Böhm (Hsg.): "Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen" Tropen Verlag, Köln 2003, S. 106 - 118

"Unter Schriftstellern ist es verbreitet, sich als letzte Repräsentanten einer im Grunde bereits untergegangenen Epoche zu begreifen. Nach ihnen kommt nichts mehr, zumindest nichts, das ihrer Vorstellung von Literatur, ihrer Geschichte und Tradition, ihrer kulturellen Bedeutung undsoweiter standhält. Nach ihnen der Sumpf des Stumpfsinns. Mein Selbstverständnis war sonderbarerweise immer genau umgekehrt."

Norbert Niemann

Ländliche Entwicklung

Eine Liebeserklärung an Niederbayern

Essay, in: Thomas Steinfeld (Hsg.): "Deutsche Landschaften. Mit Fotografien von Therese Humboldt" S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2003, S. 304 - 318

"Heimat. Das Wort hat mich immer abgestoßen: Etwas, vor dem man fliehen, das man hinter sich lassen, dann vergessen muß. Ich werde diese Heimat nicht los. Sie holt mich ein, jedesmal an dieser Stelle meiner Route, und ich frage mich, was in diesem Gelände jenen Zustand heraufbeschwört, der mich zwingt, das Wort Heimat zu denken."

Norbert Niemann

Der letzte Link

Ein Nachwort zum posthum veröffentlichen Roman des Freundes Heiner Link

in: Heiner Link: "Frl. Ursula" (Roman) Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, S. 211 - 223

"Ich weiß noch gut, wie wir am Morgen nach einem Sommerfest im ehemaligen Dorf und jetzigen Vorort Eichenau, wo Heiners Doppelhaushälfte steht, einen Biergarten besuchten. Die alte Wirtin kannte ihn noch aus seiner Kinderzeit, als er mit dem Vater Bier und Fruchtsäfte aus dem großväterlichen Betrieb ausgefahren hatte. Die Sonne schien. Wir blieben den ganze Tag unter den Kastanien. Diesen Sonntag habe ich als den schönsten gemeinsam verbrachten Tag in Erinnerung. Ob das Gelände inzwischen wie angekündigt planiert ist, weiß ich nicht."

Norbert Niemann

Strategien der Aufmerksamkeit. Eine Umkreisung

Ein Nachdenken über den Terror des Marktes und die Zukunft der Literatur

Essay, in: Hannes Luxbacher, Andreas R. Peternell, Werner Schandor (Hsg.): "Big Business Literatur. Reflexionen über den Marktwert der Literatur" Triton-Verlag, Wien 2002, S. 19 - 32

"Zweifelsohne ist dem Diktat einer Ökonomie der Aufmerksamkeit mit den Mitteln des Skandals nicht mehr beizukommen. Im Gegenteil scheinen sich beide zu einer neuen, unheiligen Allianz zusammengeschweißt zu haben. In ihr wird das Prinzip der Attraktion erst dann endgültig auf die Spitze getrieben sein, wenn Terror und Markt in eins gefallen sind. Jede Subversivität, die der Idee des Skandals ursprünglich zugrunde lag, hat sich in Luft aufgelöst."

Norbert Niemann

Sankt Martin

Eine Geschichte vom Sterben

Erzählung, in: Verena Auffermann (Hsg.): "Beste Deutsche Erzähler 2002" Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, München 2002, S. 14 - 41

"Seit einigen Wochen geriet Berger häufiger in eine sonderbare Zerstreutheit, ohne daß er einen Grund dafür hätte angeben können. Nicht daß er darüber wirklich beunruhigt gewesen wäre. So lange er zurückdenken konnte, neigte sein Gemüt dazu, sich den kürzer werdenden Herbsttagen anzupassen, und nachdem er sich vor vier Jahren aus der Kanzlei Krafft, Berger & Kleinschmidt zurückgezogen und sein eigenes, bescheidenes Büro eröffnet hatte, machte er bald schon mit diesen besonderen Stimmungen Bekanntschaft, die ihn zuerst bei seinen ausgedehnten Novemberwanderungen entlang des Seeufers überfielen."

Herausgegeben von Georg M. Oswald, Norbert Niemann und Wolfgang Matz

Akzente 4 / 2002

Tradition

Akzente - Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger, Hanser Verlag

Mit Beiträgen von:
Helmut Krausser über geistige Vorväter
Norbert Kron über den Liebesroman
Michael Lentz über Thomas Mann
Norbert Niemann über Musil und Burgess
Georg M. Oswald über Sartres Engagement
Patrick Roth über Joyce und die Toten
Gustav Seibt über private Traditionen
Armin Senser über Robert Frost et al.
Juli Zeh über das Ich des Erzählers

Aus dem Vorwort:

"Die begreifliche Sehnsucht nach den Wahlverwandtschaften ist also einerseits Antidot gegen einen besinnungslosen Gegenwartswahn, andererseits Zeichen einer unabdingbaren Forderung an die ästhetische Qualität von Literatur, an die Fähigkeiten von Schriftstellern und von Lesern. Nicht zuletzt aber ist sie der Beweis dafür, daß wirkliche Gegenwartsliteratur auch die zweihundert Jahre jüngere noch etwas zu lehren vermag. Auf den Gedanken, literarische Tradition mit Hilfe eines "Kanons" herzustellen, in dem irgendwelche Autoritäten die Spreu vom Weizen trennen, kann nur eine museale Epoche kommen, in der eine lebendige, und das heißt: eine wirkende Tradition sich schon lange nicht mehr auszubilden vermag. Der Versuch, aus der Erfahrung von Schriftstellern Linien einer eigenen, produktiven Aneignung von Traditionen zu zeichnen, wird zwangsläufig unvollkommen sein. Aber es ist immerhin ein Anfang."

(Wolfgang Matz)

Norbert Niemann

"Eltern sind immer entscheidend für ihre Kinder ..."

Vom Zusammenleben der Generationen

Auszüge aus den Romanen "Wie man's nimmt" und "Schule der Gewalt", in: Helmut Flad (Hsg.): "Hauptsache ICH. Erzählprosa nach 1990" (Reihe: "Klassische Schullektüre" hg.v. Ekkehart Mittelberg, Cornelsen, Berlin 2002, S.7 - 11 und S.15 - 19

"Es ist nicht mehr so wie früher, ich meine, die Stimmung zwischen uns. Tochter und Vater, das Verhältnis ist einfach nicht mehr so innig. Ehrlich gesagt, Luzie geht mir die meiste Zeit wahnsinnig auf die Nerven. Sie ist unglaublich dürr geworden. Gut, sie hat mindestens einen halben Kopf zugelegt im vergangenen Jahr, aber nun fängt sie mit diesem Essenszirkus an. Dies mag sie nicht und das ist zu fett und dann mampft sie zwei Tafeln Schokolade auf einmal in sich rein. Danach hängt sie auf dem Sofa, sieht sich jeden Scheiß im Fernsehen an, während draußen das schönste Wetter ist. Komm, sag ich, in einer halben Stunde bin ich mit dem Haushalt fertig, dann gehen wir schwimmen. Luzie glotzt weiter auf den Bildschirm, wo so Zeichentrickfilme laufen, Schnitte in irrwitziger Geschwindigkeit, ein einziger grellbunter Flash. Sie würdigt mich keines Blicks, keines einzigen Worts."

Norbert Niemann

Korrekturen an der Schönen Neuen Welt

Eine Auseinandersetzung mit dem Roman "Elementarteilchen" von Michel Houellebecq

Essay, in: Thomas Steinfeld (Hsg.): "Das Phänomen Houellebecq" DuMont Buchverlag, Köln 2001, S. 82 - 90

"Um es gleich vorweg zu sagen: Wer sich auf Elementarteilchen , den erstaunlichen und gewichtigen zweiten Roman des als Skandalautor gehandelten Michel Houellebecq einläßt, muß mit einer Verstörung rechnen. Einer Verstörung, die in dem Maße zunimmt, wie die reale Entwicklung voranschreitet. Eben noch in die fiktive Utopie einer geklonten Zukunftsperspektive versetzt, hört man auch schon ihr wirkliches Echo im Jetzt."

Norbert Niemann

Teure Verständnislosigkeit. Ingeborg Bachmann und die Gegenwart

Eine Verdeutlichung der radikalen Poetologie der großen Dichterin

Essay, in: Reinhard Baumgart, Thomas Tebbe (Hsg.): "Einsam sind alle Brücken. Autoren schreiben über Ingeborg Bachmann" Piper Verlag, München 2001, S .67 - 81

"Ingeborg Bachmann hat nie aufgehört, jene "teure Verständnislosigkeit" zu pflegen, die allein Auskunft geben kann darüber, was das ist: Realität, Ich, Wahrheit - und der wir es "letzten Endes verdanken, ich zu sein". "Es gibt in der Kunst keinen Fortschritt in der Horizontale, sondern nur das immer neue Aufreißen einer Vertikale", wie es in den "Frankfurter Vorlesungen" heißt, nur in der Literatur gelingen "Stücke der realisierten Hoffnung auf die ganze Sprache, den ganzen Ausdruck für den sich verändernden Menschen und die sich verändernde Welt". Und nur auf diesem Weg kann Dummheit umgangen und Schuld getilgt werden. Pathetisch sind nur wir."

Norbert Niemann

Schritt für Schritt - Ein Plädoyer für die Zukunft des Theaters

Ein Abschied vom Monolog auf der Bühne

Essay, in: Elisabeth Schweeger, Eberhard Witt (Hsg.): "Ach Deutschland" belleville Verlag Michael Farin, München 2000, S. 117 - 121

"Noch herrscht es vor, dieses Allgemeinbefinden von Orientierungslosigkeit, Angst, hysterischer Klage oder Affirmation oder Ohnmacht. Es kann auch nicht einfach übergangen, gleichsam ästhetisch übersprungen werden. Doch der Blick auf diesen Zustand hat sich gewandelt. Es gibt wieder ein, wenn auch noch reichlich im dunkeln tappendes Bewußtsein und Bedürfnis, die persönliche Lage entlang der kollektiven Misere zu reflektieren und daraus Handlungsstrategien abzuleiten. Meine vorsichtige Prognose für ein kommendes Theater würde also lauten: Langsam und Schritt für Schritt wird es sich von der Dominanz des Monologischen verabschieden und zur dramatischen Darstellung politischer Subjekte zurückfinden."

Norbert Niemann

Rekonstruktion und Revolte

Eine Bestandsaufnahme

Essay, in: Perikles Monioudis (Hsg.): "Schraffur der Welt. Junge Schriftsteller über das Schreiben" Econ Ullstein List Verlag, München 2000, S .24 - 36

"Nicht wie unsere Popsprache virtuos zu handhaben wäre, sondern was unterm Strich dabei herauskommt, wenn sie alles ist, was zum Sprechen noch benützt werden kann, darum geht es immer häufiger. Um die ganze Verlorenheit und Leere, die sich hinter der üblichen schicken Pop-Witzigkeit verbirgt. Und im selben Zug um eine ökonomische Praxis, die sich der Pop-Ästhetik bedient, um mit einem Schlag die Menschen zugleich ruhigzustellen und als Konsumenten zu binden - dieselbe Praxis übrigens, die auch den Literaturbetrieb zu erfassen sucht. Kurz: Es geht wieder mehr um soziale Realität und um die per Massenmedien installierte Schizophrenisierung der Gesellschaft. So kehrt über den Umweg des Pop die Literatur zur seit ihren bürgerlichen Anfängen angestammten Aufgabe zurück, die Oberflächen des Realen auf die verborgenen Tiefen und Untiefen hin aufzureißen."

Herausgegeben von Norbert Niemann und Georg M. Oswald

Akzente 3 / Juni 2001

Politik

Akzente - Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger, Hanser Verlag

Mit Beiträgen von:

Marcel Beyer / Andreas Neumeister / Mirko Bonné / Kathrin Röggla / Thorsten Krämer / Leander Scholz / Norbert Kron / Ingo Schramm / Michael Lentz / Lutz Seiler / Dagmar Leupold / Burkhard Spinnen / Thomas Meinecke / Birgit Vanderbeke

Aus dem Vorwort:

"Die politische und gesellschaftskritische Kultur bürgerlicher Prägung ist weggebrochen. An ihre Stelle ist etwas anderes getreten. Diesem anderen begegnen wir im politischen Tagesgeschäft genauso wie in der Alltagskultur oder an den Arbeitsplätzen. Es ereignet sich und ist auf der hauptsächlich marktförmigen Verlaufsoberfläche auch beschreibbar. Doch entzieht es sich, während wir es betrachten, noch weitgehend einer präziseren Benennbarkeit vor allem im Hinblick darauf, wie es die Menschen erreicht und zurichtet."

"In einem Heft der Zeitschrift ,Akzente' soll der Versuch unternommen werden, Perspektiven auf die politischen Problem- und Konfliktzonen in der gegenwärtigen Gesellschaft mosaikartig zusammenzustellen und nach dem heute noch möglichen Verhältnis von Politik und Literatur zu fragen."

(Norbert Niemann / Georg M. Oswald)

Norbert Niemann

Wie man's nimmt

Aus Teil I: springen

Romanauszug, in: Heinz Ludwig Arnold (Hsg.): "Die deutsche Literatur seit 1945. Flatterzungen 1996 - 1999" dtv, München 2000, S.236 - 241

"Schönlein sieht zum Giebel empor, über dem der Himmel vollendet blau ist. Vielleicht ist es das, was ihn allmählich an dem Anblick zu fesseln beginnt. Wie vollkommen dieses leuchtende Dunkelblau über einem solchen Haus stehen kann. Kurios, denkt er vielleicht. Der Bau stammt aus der Gründerzeit, war wohl einmal sehr beeindruckend, sehr herrschaftlich. Für Schönleins Geschmack viel zu verspielt. Zu viele Erker und Balkone und Schnörkel. Das alles heute natürlich ein Haufen wahrscheinlich schon unrettbar vergammelter Trümmer."

Herausgegeben von Norbert Niemann und Wolfgang Matz

Akzente 2 / April 1999

Neue Zeiten! Und die Literatur? Akzente der deutschen Gegenwartsliteratur

Akzente - Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger, Hanser Verlag

Mit Beiträgen von:

Ralf Bönt / Norbert Niemann / Ulrike Draesner / Georg M. Oswald / Arno Geiger / Albert Ostermeier / Heiko Michael Hartmann / Kathrin Röggla / Annegret Held / Birgit Vanderbeke

Aus dem Vorwort:

"Der kulturkritische Jammerton, an dessen Berechtigung nicht der geringste Zweifel möglich ist, hat eigentlich nur einen Fehler. Er nimmt der Literatur die Möglichkeit, sich wirklich auf die Verhältnisse einzulassen. Es ist eine Sache, über die Populärkultur und alles, was mit ihr zusammenhängt, zu klagen: vor allem über den fast vollständigen Bedeutungsverlust von Literatur im öffentlichen Raum. Es ist eine andere Sache, wenn Autoren versuchen, sich ihr Bild von einer Welt zu machen, die ihrerseits häufig nur noch aus bunten Bildern, Lärm, Gerede zu bestehen scheint. Denn eine Literatur, die den Begriff Gegenwartsliteratur ernst nimmt, müßte doch zumindest den Versuch unternehmen, die Gegenwart so wahrzunehmen, wie sie ist: Geprägt von elektronischen und gedruckten Bildern, von optischer Allgegenwart der Katastrophen und Kriege, von akustischer Dauerberieselung."

(Norbert Niemann / Wolfgang Matz)