Norbert Niemann

Wie man's nimmt

Roman

Carl Hanser Verlag, München 1998, 432 S., geb., 23,50 EUR

"Wie man's nimmt" erzählt die Geschichte von fünf Menschen in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Schauplatz sind nicht die großstädtischen Ballungszentren, wo sich der Wirbel der gerade herrschenden "Ich-Moden" dreht, sondern die scheinbare Normalität der Provinz, wo das Aufgewirbelte im Alltag der Menschen landet: Fast unmöglich scheint es, in einer Flut von sekundär vermittelten Gefühlen die eigenen Gefühle wiederzufinden, eine Lebensform, die sich weder durch Abgrenzung von der Gesellschaft noch durch Anpassung ausdrücken muß.

Die Flut scheint unendlich, Peter Schönlein schwimmt. Führt nicht jeder Ausweg aus seinem Film vom Leben in einen anderen? Aus dem Blickwinkel der ihn umgebenden Menschen, seiner Ehefrau, der Geliebten, des Freundes, verfolgt der Roman, wie Schönlein untergeht, schließlich ganz verschwindet.

Können die anderen sich über Wasser halten? Christa, die nach dem Zerbrechen ihrer Ehe und ihres Lebensentwurfs eine humane Alternative sucht? Lisa, die junge, am heftigsten von einer Sehnsucht nach Normalität bestimmte Geliebte? Mattias Boker, dem die Welt zu einem ausweglosen System von Fallen geworden ist? Sie alle sehen sich vor die Frage gestellt, wo in einer unüberschaubar gewordenen Gegenwart noch Raum zu einem eigenen Leben zu finden ist.

"Wie man's nimmt" ist ein Gesellschaftsroman der neunziger Jahre, geschrieben in einer Sprache, die mit den Jargons der Bilderwelten zu spielen weiß.

Für "Wie man's nimmt" wurde Norbert Niemann mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1997, dem Bayerischen Literaturförderpreis 1998 und dem Clemens-Brentano-Preis 1999 ausgezeichnet.

Norbert Niemann: Wie man's nimmt. Roman

dtv, München 2005, 432 S., broschiert, 12,50 EUR

Norbert Niemann: Wie man's nimmt. Roman

Droemer Knaur Verlag, München 2000, 432 S., broschiert, 9,00 EUR (vergriffen!)

Pressestimmen

Peter von Matt fühlt sich in seiner Rezension an Erzähler der Jahrhundertwende wie Musil oder Schnitzler und deren „Komödien des überzüchteten Bewusstseins“ erinnert, jedoch in einer neuen zeitgenössischen Inszenierung. Den Roman durchziehe mit einer seltsam wilden Energie ein Nachdenken der Figuren über ihr Handeln und Nicht-Handeln, so dass die Physiognomie einer Generation entstehe, die alles über sich wisse, alles tausendfach durchdacht habe, aber im Gefängnis ihrer rundum aufgeklärten Welt eingesperrt bleibe. Bis die Figuren eine Schwelle überschreiten, in einen Bereich, für den keine Modelle mehr zur Verfügung stehen.

„Von diesem Autor wird man noch hören. Er hat Zeit, er besitzt Reserven, und er wagt es, dem Leser Steine in den Weg zu legen.“

Peter von Matt: Auf der Schwelle, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 5. 1998

Für Franz Haas ist „Wie man’s nimmt“ ein breit angelegter Generationenroman, der den Versuch unternimmt, die schwer überschaubare Gegenwart der neunziger Jahre in den Blick zu nehmen. Thema des Buchs sei das Glück in seinen vielfältigen Verkleidungen als Erfolg, Liebe und „deren garstigem Gegenteil“. Haas zählt den Roman zu den Besten seiner Zeit und seines Landes, hält ihn für „sehr deutsch, sehr gründlich, sehr gescheit“. Aber mit seiner Ironie, seinem bösen Blick und seinen abgründig komischen Szenen breche der Autor dieses Muster immer wieder auf und stehe damit „ziemlich brillant da“.

„Norbert Niemann inszeniert diesen spätmodernen Reigen mit einer stupenden Vielstimmigkeit, mit furioser Detailliertheit und überrumpelnder Intelligenz.“

Franz Haas: Den Himmel durchschauen, Neue Zürcher Zeitung, 22. 3. 1998

"Hell", says Gotthold Lessing, the Enlightenment theorist, "is causality. The effects of what is done or not done continue into infinity. We are guilty because we live. That is hell ... Therefore Enlightenment ... is nothing but carrying the weight of hell on your shoulders." This austere view is quoted by Mattias Boker, a failed writer who believes himself to be Lessing's intellectual heir, towards the end of Norbert Niemann's novel Wie man's nimmt ("That Depends"). Niemann's literary debut boldly reinvents the Gesellschaftsroman (society novel) within a contemporary context. Needless to say, the idea of the postmodern is anathema to Mattias's mind, which the narrator dismisses as a "metaphysics machine". Clearly indebted to recent French cultural theory, Niemann's important novel analyses the "abwesende Anwesenheit" (absent presence) which haunts his characters' media-saturated lives.

Peter D. Smith: Cause and ill effect, Times Literary Supplement, 26. 3. 1999

Textauszug

Um endlich deutlicher zu werden, Boker: laß dir mal schnell die groben Umrisse meines Lebens malen. Ich umgeb mich also mit lauter kaputten Leuten, dabei wünsch ich mir nichts mehr als ein stinknormales Leben. / Das war's eigentlich schon. Logisch so übertrieben, wie sich's für mich gehört. / Vielleicht ist das ja mein spezieller Irrsinn. Keine Ahnung. Man bemerkt ja immer nur die Idiotie der Anderen. Bei Peter, hab ich geglaubt, kommt das zusammen: stinknormal und trotzdem anders. Inzwischen bin ich sicher, daß das ein Irrtum gewesen ist. Anderssein als Normalsein, das Normale als das Abgedrehte: das kürzt sich gegenseitig weg, da kann nichts übrigbleiben, das ergibt Null. Klar! Deswegen bist du so, wie du bist, hab ich gedacht. Nichts kommt raus. Nichts. //

Und bei Peter dasselbe: nichts bleibt. Aber ich mag nicht mehr! / So: ich hasse die Welt ja gar nicht. Die Leute sind mir immer alle so furchtbar sympathisch. Ja. Die sind doch echt in Ordnung. Das kommt mir immer in den Kopf, wenn ich so durch V. laufe. Nur sind sie mir trotzdem sowas von egal. / Scheiße, ich dagegen, ich!, weiß nicht, was es soll: ,Leben'. Echt keine Ahnung! Aber die rennen rum, man kann es ihnen von der Nasenspitze ablesen, wie sie an ihr ganzes, kleines, persönliches Scheißleben glauben! Kann mich da hineinversetzen, doch. Was für ne Bescheidenheit! Die haben's gecheckt, ich faß es nicht! Sind normal! Richtig angenehm. Ach was: toll ist das! Ich, ich dagegen, ich hab das doch keinen einzigen Moment in meinem Leben gespürt! Also logisch, daß ich nichts verloren hab in denen ihrer Welt. Was sagst du, Boker? Ich und bescheiden! Das ist doch der Grund, warum ich so bin, warum ich leb, wie ich's tu. Eingebildet bin ich! Hysterisch! Aber nicht, weil ich sie hasse! Mensch! //

Boker verabscheut natürlich Gleichnisse, aber das hier kann er jetzt nicht abstellen. Auf einmal nämlich ist ihm klar, warum er sich gerade diesen Job ausgesucht hat: er bildet sich ein, Teil einer Art Familie zu sein, einer wunderbar zwanglosen Familie! Die Schüler und er, ihr Ausgeliefertsein und sein Buhlen um ihr Vertrauen. Etwas wie ein Zuhause, beruhigend, Ort, der in Ordnung ist ... meine Volkshochschule. Und nun schämt er sich dafür. All die Lehrer-Jahre hat er es sich vorgesagt: Hierarchien ausnützen, indem man sie für den persönlichen dummen Selbstschutz mißbraucht, um sich abzugrenzen, zu fliehen vor der eigenen, verhaßten Einsamkeit ... Ich ist ein Anderer... es kann nichts Abstoßenderes geben als das. Und er war sich sicher: das genau bestimmt nicht zu tun: vor sich selbst davonlaufen. Er saß vor ihnen, er war der fremde Lehrer, und sie blieben, was sie sind: fremd. So. In ihrer Würde. Unangetastet. Nie hat er sich gefühlt wie einer von ihnen. Er war die andere Seite, vorne, an der großen Tafel. Distanziert, freundlich, Lehrer. Genauso fremd. Sein Rest von Identität. So. Ja, davon ist er überzeugt gewesen, über all diese blinde Zeit hinweg. Und jetzt sieht er es: er hat diese Leute reingelegt, er hat sich selbst reingelegt!

Und dann Karl. Der Maler! Der Säufer! Der bloß unzusammenhängendes Zeug faselt! Hoffnungsloser Fall! Genau das ist er. Runter ist der gefallen, und zwar runter bis auf mein Niveau! Genau vor die Füße! Wie alle diese Typen, die bei mir landen! Nur daß ich kein Engel bin. Nur daß ich immer schon da unten gewesen bin, gar nicht weiß, wie es dort oben aussieht, von wo die runtergepurzelt kommen. Auf dieser Höhe! An sich glauben. Einmal wirklich an sich geglaubt zu haben! Der Karl! Denk dir das aus! / Aber du kennst ihn ja nicht. / Wenigstens sind mir solche Leute nicht so völlig fremd wie der Rest. Gescheiterte! Sich selbst in aller Bescheidenheit so wichtig zu nehmen, und dann auch noch so zu scheitern! Unbegreiflich! Aber obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, an was eigentlich gescheitert, kommt mir das alles trotzdem ziemlich bekannt vor. Witzig, was. Als ich beschlossen hab, zu Karl zu ziehen, war es genau deswegen. Ist mir mit seinen rotunterlaufenen Augen gegenübergestanden, und ich hab mir gedacht: da kannst du hin, das ist es. Wie man lebt, wenn man draußen ist aus denen ihrer Welt. Man kann sich ja vielleicht zusammentun. Einer wie Karl, der hat seine Schläge schon abgekriegt, der hat was lernen können, der weiß, wie er sich einrichten muß in einem Leben, das jemand wie ich immer schon führt und nie damit zurande gekommen ist. Ohne Chance, ohne Ziel: ein Leben wie das von Karl. Keine Chance, jemals zurückzukehren in die alten bescheidenen Wichtigkeiten, die jemand wie ich nicht mal versteht. //

Ist ja auch komisch, das sogenannte Normalleben. Funktioniert perfekt. Kenn sie genau, die Regeln, die wichtigste heißt: Es geht in erster Linie nur um dich. Aber wieso glauben die Leute dran? Wieso reichen ihnen diese idiotischen Regeln? Wieso langweilen sie sich nicht? Mit diesem ,Ich'? Die glauben, das sind sie, die Regeln sind sie! Die Regeln wichtig nehmen heißt, sich wichtig nehmen. Scheiße, und sie nehmen es verdammt wichtig. Dabei muß man doch blind sein, um nicht zu sehen, wie idiotisch die Regeln sind! Was wollen die denn alle bloß damit? Glauben die wirklich, ihr ganzes kleines Scheißleben ist in diesen idiotischen Regeln, Boker? Kriechen die tatsächlich immer tiefer rein in sich selber? Sind sie so bescheiden? Glauben die an sich als Idioten? Oder was ist da, wo sie hinkriechen? - Sorry, aber ich faß es einfach nicht! //