Mediale Ikonen. Über den Maler Anton Petz
Überlegungen zum kunsttheoretischen Stand der Dinge
1.
Es gibt eine Menge Anzeichen dafür, dass derzeit ein kulturelles Klima herrscht, in dem ein zentrales Merkmal der Kunst zunehmend ausgeblendet wird. Bilder, Bücher, Filme, Lieder sollen heute vor allem dazu dienen, unser Bedürfnis nach einer gewissen Empfindungsintensität zu befriedigen. Sie sind zu einer Art Luxuszusatz geworden in einer harten realpolitischen Wirklichkeit unter der Herrschaft von Markt und Medien. Werke aller Kunstgattungen werden in erster Linie danach beurteilt, ob sie uns trösten, erschüttern, mit Schönheit umgeben – mit einem Wort: nach ihrem Unterhaltungswert. Wo der Begriff und Gebrauch von Kunst derart eingeschränkt, ja, verstümmelt ist, liegt es auch nahe zu glauben, man könne im ökonomischen Notfall ganz auf sie verzichten.
Was die Geschichte der Bildenden Künste, der Literatur, des Theaters und des Kinos, der Musik jedoch seit jeher begleitet hat, ihre historischen Hervorbringungen bis auf den heutigen Tag bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass Kunst auch – und in ihrem Kern wesentlich – ein Erkenntnismedium ist. Gerade das jedoch gerät in der Wahrnehmung gegenwärtiger ästhetischer Entwicklungen mehr und mehr aus den Augen.
Ein häufig benutzter Gemeinplatz, der das Wesen der Kunst in einen Satz zusammenzudrängen glaubt, ist die Behauptung, Kunst gebe keine Antworten, sondern werfe Fragen auf. Ich behaupte dagegen, dass dieser Satz im Grunde eine Ausrede ist, um sich vor der Auseinandersetzung mit Kunst zu drücken. Dessen Aufstieg zum Klischeegedanken leitet im Gegenteil ihre Entwertung ein. Er erniedrigt die künstlerische Leistung zu einem irgendwie unbewusst aus dem Künstler herausbrechenden Gefühlsausdruck, aus dem dann jeder seine persönliche Deutung herauszieht oder zu ziehen verweigert. In ihm wurzelt nicht zuletzt die grassierende Dominanz von vermeintlichen Experten, die sich den Künstlern überlegen wähnen, als wären sie so etwas wie Kunst-Psychiater. In Wahrheit befördern sie eine groteske Modedynamik und den Aufstieg von Pseudo-Künstlern, die den Erfordernissen des Kulturbetriebs entsprechen.
Vom Standpunkt der Kunst handelt es sich hierbei um eine Zementierung von Dummheit. Denn für den Künstler ist das, was er schafft, durchaus Antwort auf eine Gegenwart, die eine Vielzahl drängender Fragen aufwirft. Er stellt eine Lesart von Welt her, die hervorhebt, sichtbar, hörbar, erzählbar macht, was die nicht-künstlerischen, scheinbar objektiven bzw. Objektivität beanspruchenden Lesarten übersehen, überhören, für nicht berichtenswert halten. Mit ihrem gestiegenen und noch weiter sich steigernden Anspruch darauf, die Realität nicht nur abzubilden, sondern zu repräsentieren, werden diese pseudo-objektiven Lesarten außerdem immer mehr selbst Teil des Materials, das es aufzubrechen und zu durchdringen gilt. Insofern stellen wahrhaft zeitgenössische Künstler mindestens ein unerlässliches Korrektiv, wenn nicht eine zwingende Voraussetzung für jede Gesellschaft dar, die den Fallgruben phrasenhafter Engstirnigkeit und demagogischer Verführung entgehen – kurz: dem Absturz in die Barbarei abwenden will.
Seit den Anfängen der Moderne bemüht sich die Kunst mit ihren Mitteln Bilder zu zeichnen, Texte zu verfassen, Klänge zu finden, um zur unkenntlich gewordenen Wirklichkeit hinter dem Schleier ihrer Repräsentation vorzustoßen. Schon Hermann Broch sah sich von „Fassaden des Kitsches“ umstellt, lief durch eine „Realität als Illusion“ wie durch ein einziges Potemkinsches Dorf. „Ein Minimum an ethischen Werten“, schrieb er über Wien kurz vor dem Ersten Weltkrieg, „sollte durch ein Maximum an ästhetischen, die keine mehr waren, überdeckt werden.“ Damals begann die große Tradition einer Fassadensprengungskunst, die kontinuierlich beinahe bis zum Ende des 20.Jahrhunderts ihre Wirksamkeit in ständig neuen, vom jeweiligen Stand der Fassadenbauindustrie inspirierten Formen bewies. Doch in jüngster Zeit scheint sich die Gewalt der Wirklichkeitsbilder, Wirklichkeitsgefühle, Wirklichkeitsdeutungen noch einmal deutlich verschoben zu haben. Die bisherigen Verfahren des um Erkenntnis bemühten Künstlers greifen nicht mehr.
2.
Als ich Anton Petz in seinem Atelier besuchte, kamen wir unter vielem anderen auf den Schluss des Films Im Lauf der Zeit von Wim Wenders aus dem Jahr 1976 zu sprechen. Darin sitzt ein Junge an einem Bahngleis und schreibt in einem Notizbuch auf, was er sieht. Thema des Films ist, was eine Figur darin als „Kolonalisierung“ des Unbewussten, in diesem Fall durch die Bilder Hollywoods bezeichnet. Zum Gegenprogramm wird ein Kino als „Kunst des Sehens“ erhoben, das wie das schreibende Kind am Bahnhof mit der Unschuld einer naiven, aber authentischen Genauigkeit und Unerschrockenheit die Wirklichkeit erfasst, die es umgibt.
Die Szene und ihr ästhetisches Postulat, in unserer Jugend prägend für die je eigene künstlerische Sozialisation, sind aufschlussreich für das, was sich seither verändert hat. Sie scheinen mir außerdem geeignet, ein gemeinsames erkenntnistheoretisches Fundament künstlerischer Arbeit zu beleuchten, insofern sie eine Engführung literarischer und bildnerischer Fragestellungen bieten.
Wenders übernimmt die Poetologie Peter Handkes, mit dem Wenders zu jener Zeit eng zusammenarbeitete, ins Bildästhetische. Danach existieren zwei strikt voneinander getrennte Realitäten, von denen die eine künstlich und eine Lüge ist, die andere aber die wirkliche Wirklichkeit. Der künstlichen Realität, im Begriff, die Köpfe der Menschen zu besetzen, also im Bewusstsein die Stelle des authentisch Realen abzulösen, will die Kunst 1976 mittels Betonung und Verstärkung einer Fähigkeit zur unverstellt subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung widerstehen. Worauf es ankommt und worin die emanzipatorische Kraft dieser Ästhetik liegt, ist ihre doppelte Präzision des Hinschauens und Darstellens. Der Betrug, so lautete die damals vermutlich noch erfolgversprechende Botschaft, kann mittels individueller Wahrnehmungsanstrengung aufgedeckt werden. Angeleitet durch die Schule der Künste, zerreißt der Vorhang, den das kolonialisierte Bewusstsein über die Sinnesorgane breitet.
Mittlerweile ist die Vorstellung, durch Dekonstruktionstechniken oder durch eine Rekonstruktion des Authentischen im Handkeschen Sinn noch einen Realitätskern freilegen zu können, jedoch absurd geworden. Verantwortlich für diese neu entstandene Ohnmacht dürfte vor allem sein, dass eine strikte Trennung zwischen virtueller Bewusstseinseroberung und wahrem Leben und Erleben nicht mehr möglich ist. Nicht dass die Kolonialisierung der Köpfe ausgefallen wäre – allenfalls ließe sich die fragen, ob der Begriff Kolonialisierung das Phänomen richtig beschreibt. Sie ist vielmehr so durchgreifend gewesen, dass die mediale Reproduktion von Realität selbst Teil der Realität geworden ist. Auch Peter Handke konnte schon in den Neunzigern nicht mehr durch serbische Landschaften wandernd mit seinem Konzept einer reanimierten Authentizität an eine wahrere Wirklichkeit der Jugoslawienkriege herankommen. Die Medienbilder hatten bereits begonnen, unauflöslich mit der Realität zu verschmelzen. Inzwischen ist die Wirklichkeit im digitalen Universum der Netzwerke derart engmaschig mit den konkreten Geschehnissen verwoben, dass wir als deren Teilhaber ständig gleichzeitig auf zwei Realitätsebenen existieren und agieren. Das Konkrete und das Mediale lassen sich eben gerade nicht mehr als zwei getrennte Realitäten wahrnehmen. Heute sind wir aktiv und passiv an der Gestaltung beider einander wechselseitig beeinflussenden Ebenen beteiligt.
3.
Für die Künste bedeutet dieser Befund, dass sie ihr Verhältnis zum Stoff, zum bearbeitenden Material notwendig neu zu bestimmen haben, wollen sie ihrer nach Erkenntnis trachtenden Aufgabe auf der Höhe der Zeit nachkommen. Der Wirklichkeitsmächtigkeit einer medialen Simultanrealität ist nicht länger dadurch beizukommen, dass sie ausschließlich als ein Uneigentliches begriffen wird. Die mediale Verdoppelung wirkt sich als Teil unseres Alltags in derselben, gleichsam naturgesetzlichen Weise auf unser Bewusstsein aus wie die sogenannte authentische Wirklichkeit. Sie ist nicht allein Fassade, die uns ein Trugbild vorgaukelt, kein Mund, der uns unbemerkt etwas einflüstert, worüber eine Rückübersetzung aufklären könnte. Eine Alphabetisierung im Lesen neuer Medien, wie sie Walter Benjamin noch vorschweben konnte, der eine „Beschriftung der Aufnahmen als ihren wesentlichsten Bestandteil“ forderte, greift zu kurz, wo diese Medien zur Welt gehören, in der wir zuhause sind.
Dazu kommt, dass gerade die Ästhetiken der Moderne mit ihren Techniken der Dekonstruktion, der Collage, Montage und kubistischen Mehrperspektivität, der Kombinatorik und Aleatorik, des Cut-ups und nicht zuletzt der Abstraktion heute vollständig von den medialen Verfahren absorbiert sind. Sie sind sogar mitverantwortlich dafür, dass Bilder-Clips ihrer zeitgemäßen Funktion gerecht werden und sich direkt, ohne den Umweg über Sprache (und damit unter Ausschaltung jeder kritischen Reflexion) in unser Bewusstsein einbrennen. Aufnahmen von Demonstrationen, Aufständen, auf Schiffen zusammengepferchten Boat People, überhaupt von Massenszenen, dazu die Innenansichten von Börsen, Parlamenten, der UNO – wie Anton Petz sie immer wieder malt – schließlich die seit über zehn Jahren in einer Endlosschleife in die Twin Towers rasenden Flugzeuge erfüllen eine ähnliche Aufgabe wie die Fresken in romanischen Kirchen, den Medienzentren des Frühmittelalters. Wie damals Bilder überhaupt erst der Hölle – und dem einzigen Erlösungsweg aus ihr – existenzielle Realität verliehen, schaffen sie heute erneut ein vorsprachliches Szenarium der Bedrohung und ihrer Kompensation. Sie stellen ein Klima der Grundangst her, in dem uns das eigene Leben an unkontrollierbare Schicksalsmächte ausgeliefert erscheint. Zugleich werden die immergleichen Bilder des Grauens und der Krisen von den immergleichen Bildern der Institutionen aufgefangen, die dieses Grauen und diese Krisen verwalten. Sie bannen die säkulare Gegenwartshölle ins Emblematische. Das konkrete Leid konkreter Menschen rückt durch Abstraktion und Wiederholung in eine Distanz, die unsere Anteilnahme herunterdimmt und unsere Angst auf das Los der Opfer auslagert.
Wenn also heute die medialen Bilder gleichrangig neben den realen Landschaften stehen, die medialen Erzählungen gleichrangig neben den tatsächlichen Erlebnissen der Menschen, wenn gleichzeitig die virtuellen Räume ihr Realitätsprinzip über das konkret gelebte Leben stülpen, verschiebt sich auch die Funktion der Künste. Insofern sie Erkenntnismedium sind, werden sie von einer Dekonstruktion der betrügerischen Schleier übergehen zu einer Rekonstruktion des Gesamttableaus von Wirklichkeiten, aus denen sich unsere Welt zusammensetzt.
4.
Hier erst scheiden sich die Wege zwischen den Gattungen. Literatur und Malerei verlangen unterschiedliche Herangehensweisen. Schriftsteller übersetzen Statik in Handlung, Bildende Künstler drängen Ereignisse in einem Augenblick zusammen. Für den Autor ist gerade derjenige Stoff von Interesse, der durch die Maschen der medialen Raster hindurchrauscht. Ihn beschäftigt, was der virtuellen Aufmerksamkeit entgeht, was sie übersieht oder ausblendet. Marie NDiaye, die große französische Schriftstellerin mit ghanaischen Wurzeln, erzählt in Drei starke Frauen die Geschichte eines Fluchtversuchs nach Europa mit tödlichem Ausgang aus der Perspektive einer jungen westafrikanischen Analphabetin. Der Text ist unter anderem deshalb ästhetisch so herausragend, weil in ihm die Verschmelzung mit der medial verdoppelten Realität in unseren Köpfen erkennbar bleibt, die Klischees eines scheinbaren Kamera-Totalrealismus jedoch porös werden. Etwas Vergleichbares gelingt Thomas Lehr in seinem Roman September Fata Morgana, der von zwei Familien handelt, einer amerikanischen und einer irakischen, die unmittelbar vom Anschlag des 11.September und vom Irak-Krieg betroffen sind. Beides sind Beispiele für eine Literatur, die in der Lage ist, unsere ins Gleichgültige und Apolitische abgedrängte Wahrnehmung wieder zu schärfen.
Malerei auf der Höhe der Zeit scheint anders verfahren zu müssen. Anton Petz nimmt seinen Stoff weniger aus den Zwischenräumen der virtuellen Raster, sondern bedient sich direkt aus dem Fundus der Medienbilder, um deren Macht über unser Verhältnis zur Wirklichkeit zu brechen. Bei ihm geht es offenbar um eine Wiederaneignung des visuellen Eindrucks. Er behandelt scheinbar dokumentarische Aufnahmen, die sich als flüchtige und gleichzeitig medial omnipräsente Momente in unseren Wahrnehmungsalltag einschreiben, als wären sie – was sie tatsächlich geworden sind: reale Sujets. Durch die Verwandlung dieser tief in uns eingebrannten, ins Unbewusste abgesunkenen und darin verschlossenen medialen Ikonen im malerischen Akt aber steigen sie wieder zur Oberfläche des Bewusstseins auf. Wir erkennen die Bilder sofort wieder, aber jetzt in ihrer emblematischen Funktion. Sie spiegeln uns unsere eigene Gefangenschaft in einer gemachten Realität. Erst im Blick auf Gemälde wie diese, mit ihrem in jedem Pinselstrich schütteren Realismus, zeigt sich paradoxerweise wieder das im medialen Realitätskonstrukt entkonkretisierte menschliche Leid und Handeln.
Anton Petz: "Mächte & Massen", deutsch/englisch, Ausstellungskatalog, München 2013